Foto: Annerut Marx

Losgehen

Losgehen mitten im Winter

mit müden Beinen, mit ängstlichem Herzen.

Losgehen, weil da ein Weg ist, 

der zum Gehen einlädt.

Losgehen, ohne sich umzuschauen nach Vertrautem,

Gewohnheiten ablegen, bedürfnislos werden.

Losgehen und während des Gehens 

die alte, enge Haut abstreifen, 

Verkrustungen aufbrechen und sich verändern lassen.

(Ute Latendorf)



Das Gedicht von Ute Latendorf berührt mich! Welche Gedanken und Gefühle löst es in mir aus?

Losgehen mitten im Winter, mit müden Beinen, mit ängstlichem Herzen –

Das alte Jahr hinter mir lassen und gespannt in ein neues Jahr aufbrechen. Ich bin in freudiger Erwartung. Aber auch neue Herausforderungen und Ungewisses erwarten mich. Ich frage mich: Werde ich all den Anforderungen und Aufgaben gerecht werden können? Wie kann ich die Kraft dazu bekommen? Was hilft mir und motiviert mich, loszugehen mitten im Winter?

Im Winter sehen wir noch nicht die aufbrechenden Knospen, wir spüren noch nicht all die Lebendigkeit, die auf uns wartet. Und trotzdem vertrauen wir darauf, dass es wieder Frühling wird und wir die kraftvolle Natur wiedererleben werden. 

Dieses Vertrauen hilft mir, mitten im Winter loszugehen, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Ich vertraue darauf, dass sich Wege ebnen und mir die Kraft zuwächst, die ich brauche.  

Losgehen, weil da ein Weg ist, der zum Gehen einlädt…

Manchmal tun sich Wege auf, die wir nicht erwartet haben: eine berufliche Aufgabe, eine neue Beziehung, ein neuer Lebensabschnitt oder auch ein Abschied… Der Weg, der vor mir liegt, ist auf einmal gar nicht mehr so eindeutig vorhersehbar, wie er es bisher scheinbar war. Und dennoch lädt mich gerade dieser Weg zum Losgehen ein. Lädt mich ein, etwas Neues zu wagen, mit Neugier auf das, was mir vor die Füße fällt, zuzugehen. Der Weg lädt mich ein und ermutigt mich: „Geh los“, „Brich auf“…  

Losgehen, ohne mich umzuschauen nach Vertrautem, Gewohnheiten ablegen, bedürfnislos werden…

Beim Gehen ist es wichtig nach vorne zu schauen, um nicht zu stolpern und den Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist nicht einfach, sich von Gewohntem zu lösen, sich von Vertrautem zu verabschieden und dabei mein Bedürfnis nach Sicherheit hinten anzustellen. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft. Indem ich meinen Blick nach vorne richte, öffne ich mich für das, was mir jetzt begegnen möchte. Mein Blick wird weit und ich gewinne neue Perspektiven. 

Losgehen und während des Gehens die alte, enge Haut abstreifen, Verkrustungen aufbrechen und sich verändern lassen. 

Beim Gehen spüre ich, dass ich Schritt für Schritt sicherer werde auf dem Weg. Ich merke, wie ich hineinwachse in die neue Aufgabe, die Herausforderung, den neuen Lebensabschnitt. Ich kann den Zauber erleben, der allem Anfang innewohnt, das Neue wird mir vertraut und in mir wird etwas lebendig und froh.  

Losgehen mitten im Winter – dem Frühling entgegen – ich glaube, es lohnt sich!

 

Text/Foto:
Annerut Marx
Dipl. Sozialarbeiterin